Hundertundein Topflappen hat die Textilgestalterin Heidi Arnold-Trudel gewoben, daraus einen Iglu gebaut und in einem Film ein Webschiffchen auf Reisen geschickt. «Weiss + Fischli» nennt sie ihre Arbeit, die im Rahmen der Ausstellung der Regionalgruppe Zü­richsee, einer Textilgruppe des Verbands Interessengemeinschaft Weben (IGW), zum Thema «Weiss + » entstanden ist. Doch ihr Projekt geht über die einzelnen Objekte hinaus. Im Zusammenspiel von Topflappen, Iglu und Film entsteht ein Netz von Assoziationen, ein Gewirr von Fäden, die sich zu verschiedenen Erzählsträngen drehen. Wer einen Faden aus dem vielschichtigen Gewebe herauszupft und ihn weiterspinnt, wird selbst von einer Geschichte eingewickelt.

Ein textiles Erzählprojekt

Heisser Stoff für kühle Tage

Im Weiss des Schnees ist der Iglu fast nicht sichtbar. Wer näher kommt, erkennt die Topflappen. Wie Fischschuppen bilden sie die Haut desIglus. Sie schützen nicht gegen die Hitze, sondern halten in der bitteren Kälte warm. Im Innern sitzt eine traute Runde ums Feuer, fabuliert, fantasiert, gibt Legenden weiter, die so alt sind wie die Menschheit selbst und von Leben und Liebe, Tod und Verlust, Mut, Angst, Freude und Trauer handeln. Der Iglu, ein Haus der Geschichten.

Weiss-graue Geschichten

Es sind keine Märchen aus Tausendundeiner Nacht, sondern hundertundeine Geschichte, gewoben auf einem 24-schäftigen Webstuhl. Der Stoff ist stets der gleiche: Die Längsfäden aus weisser und grauer mercerisierter Baumwolle sind in unregelmässigen Abständen angelegt, bilden aber immer eine relativ dichte Kette. Der Schuss, die eingewobenen Fäden, besteht zusätzlich aus dicken Trikotbändern. Auf dieser Grundlage sind hundertundein Topflappen entstanden, die alle eine individuelle Textur aufweisen. Die einen erzählen ihre Geschichte gradlinig; geordnete Bahnen aus grauem und weissem Faden. Andere berichten von verworrenen Geschehnissen; gesponnenes Seemannsgarn. Verflochtene Strukturen berühren die Sinne, vielschichtige Muster regen die Fantasie an: schwarz-weisses Rauschen eines toten Fernsehers, das rhythmische Wummern des Basses, der regelmässige Herzschlag auf den Apparaturen eines Krankenzimmers. Oder doch hell blinkende Sterne auf einem dunkeln Himmel und eine verschwindende Spur im frischen Schnee?

Kehrseite frontal

Die Sonne glitzert auf dem Wasser. Arachnes Schiffchen zaubert Flüsse und Berge, baut Häuser und Türme so hoch, dass sie die Wolken kitzeln, rühmt die Geschicke der Menschen und verwandelt mythische Götter in garstige Tiere. Faden um Faden belebt Arachne ihr Werk. Die Figuren beginnen sich zu regen. Auf der Vorderseite lachen und tanzen sie durchs Bild. Auf der Rückseite hingegen weinen sie und trauern verpassten Gelegenheiten nach. Arachne wird nachdenklich. Welches soll nun die Vorder-, welches die Rückseite ihres Stoffes werden? Sie hat sich in ihr eigenes Werk verstrickt, kann den roten Faden nicht mehr erkennen, will nicht mehr unterscheiden zwischen Sein und Schein. Eine Spinne, gefangen im eigenen Netz, muss sie zuschauen, wie sich ihre Figuren aus dem Bild lösen und ins Leben hinausgehen, wo sie sich ab ihrem Los freuen oder ihr Schicksal bekämpfen.

Ein Fisch im Netz 1 – eine traurige, aber wahre Geschichte

Tief unter der dicken Eisschicht, auf der der Iglu steht, schwimmt ein Fisch auf dem Weg vom Nordpol zum Südpol. Er ist aufgebrochen, der eisigen Kälte zu entfliehen und in wärmeren Strömungen seinen Lebensabend zu verbringen. Doch er kommt nicht weit. Einmal das Maul zu weit aufgerissen und schon zappelt er im Netz. Aus dem Fadengewirr befreit, landet er im Kochtopf. Während sich seine Seele verflüchtigt, hört er noch, wie im Iglu schmatzend die nächste Geschichte angestimmt wird. Es war einmal ein Fisch …

Ein Fisch im Netz 2 – ein Märchen mit Happy

Der Fisch schwimmt seine Bahnen, muss sie schwimmen, denn seine Schwanzflosse ist an eine Schnur gebunden, die ihn hin und her hetzt. So schwimmt er also von links nach rechts und wieder zurück. Hin und her und hin und her. In Grau und Weiss hinterlässt er seine Spur. An guten Tagen springt er gelegentlich aus dem Fadenmeer, vollführt einen Salto und unterbricht die regelmässigen weissen und grauen Flächen. Manchmal versucht er auch, sich zu befreien, beschleunigt sein Tempo und zieht den Faden Salto und unterbricht die regelmässigen weissen und grauen Flächen. Manchmal versucht er auch, sich zu befreien, beschleunigt sein Tempo und zieht den Faden mit aller Kraft hinter sich her. Es gelingt ihm nicht, aber er wird dadurch immer stärker. Eines Tages ist der Fisch so stark, dass er dem Faden die Stirn bieten kann. Er taucht ab und verschwindet in der Tiefe. Den Faden zieht er hinter sich her, schlitzt Topflappen um Topflappen auf, vollführt wilde

Freudentänze, deren Spuren sich als komplizierte Muster in die Lappen einschreiben. Die Weberin, noch ganz erstaunt, was sich da vor ihren Augen abspielt, wird plötzlich mitgerissen und taucht, dem Fisch hinterher, ins selbstgesponnene Dickicht ab.

Besuch aus der Kunst 1 – Lucio Fontana

Fünfundvierzig Topflappen sind gewoben, fünfundvierzig Geschichten erzählt. Und wieder holt sie Atem und beginnt ihre sechsundvierzigste Geschichte: «Es war einmal …» stösst sie das Webschiffli an und die Erzählung läuft und läuft und läuft … «und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute», endet endlich die Geschichte. «Ach, das kennen wir ja schon zur Genüge!», ruft sie verärgert aus und betrachtet missmutig ihr Werk. Trotzig holt sie ein Messer und schlitzt den Topflappen kurzerhand auf. – Erstaunt beobachtet sie, wie sich der Schlitz mit weisser beziehungsweise grauer Flüssigkeit füllt und sich Raum für Geschichten eröffnet, die sie bis anhin so nicht gekannt hat.

Besuch aus der Kunst 2 – Fischli & Weiss

Weiss träumt er sei ein Weissfisch. In seinem Traum schwimmt er in einem dunkeln Teich, auf dessen kräuselnden Oberfläche sich das weisse Mondlicht spiegelt. Er gleitet durch das schwarze Nass durch Algengewächse, Beton- und Wurstlandschaften, Agglomerationen, Salatbeete und gigantische Blumen. Ganz nah an der Wasseroberfläche erkennt er die Silhouetten vom Bären und der Ratte, die vergnügt das Ufer entlang spazieren. Doch plötzlich verwandelt sich die Ratte in den riesigen Fischers Fritz, der es auf den frischen Fisch abgesehen hat. Er kommt näher und näher, beugt sein Gesicht über das Wasser. Der Fisch zittert, Fritz krempelt seine Hemdsärmel hoch. Als er mit blosser Hand nach dem Fisch greifen will, erwacht Weiss. «Fischli!», schreit er, «Fischli, Fischli!» Fischli schaut verärgert zu Weiss, der ihn aus seiner süssen Traumlandschaft aus Polyurethan herausgerissen hat. Weiss noch ganz benommen, fragt Fischli wie in Trance: «Hätte aus mir etwas anderes werden können?», «Was denkt mein Hund?», «Fährt noch ein Bus?» – «Weiss der Teufel», ruft Fischli, «schlaf weiter.» Und Weiss verfällt wieder in einen Schlummer, während er weiter seine Fragen murmelt, die langsam von der Schlaftrunkenheit verschluckt werden. «Wem nützt der Mond?», «Soll ich ein Loch graben?», «Soll ich mich betrinken? Noch ein Gläschen?», «Wo ist mein Bett?»

Besuch aus der Kunst 3 – Mario Merz

Es ist noch früh. Bevor sie sich an den Webstuhl setzt, macht sie sich in der Küche einen Kaffee. Leicht verschlafen schaut sie auf die Terrasse und die Berge, die sich im dämmrigen Licht abzeichnen, die Maschine rattert und zischt noch etwas verkalkt. Da stutzt sie. Ihr Blick zuckt zurück zur Terrasse. Sie blinzelt. Sie blinzelt ein zweites Mal. Die Maschine dampft, der Duft von frischem Kaffee steigt ihr in die Nase. Sie reibt sich die Augen – nein, sie träumt nicht: Das Gerüst des Iglus zeichnet sich klar im Gegenlicht ab. Eine Konstruktion aus gebrauchten Zeltstangen und Maschendraht im morgendlichen Dunst, gelandet wie ein Ufo, über Nacht.

Sommer

Die Ausstellungsbesucher umrunden den Iglu, befühlen seine Textur, werfen einen Blick auf den Film in seinem Innern, knüpfen an die erzählten Geschichten an und spinnen sie weiter. Ihre Wärme lässt die Fäden zu Tropfen werden, die sich zu kleinen Bächen sammeln. Langsam beginnt der Iglu zu schmelzen. Der Sommer kommt. Während die Bäume ihre Blätter spriessen lassen, ihr Sommerkleid anlegen, verschwindet der Iglu mit jeder Geschichte, die ein Besucher mit sich fortträgt … aber nicht spurlos. Die murmelnden Bächlein fliessen direkt in die Küchen zu den Backöfen, wo die frisch gefischten Fische auf einem Bett von duftenden Kräutern schmoren. Die Topflappen schützen nun nicht mehr vor der klirrenden Kälte von Eis und Schnee, sondern vor der sengenden Hitze des Ofens.

Der Film

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Das Buch

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